Berliner Sozialgericht stellt Klageverfahren von sanktioniertem Hartz-IV-Aktivisten »ruhend«
»Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen«, sagte der frühere Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) 2006 zu Hartz IV. Der seit 2013 vom Jobcenter Berlin-Mitte vollsanktionierte Aktivist Ralph Boes erfährt dies am eigenen Leib, denn er tut nicht, was das Amt verlangt. Inzwischen hungert er seit drei Wochen mit einer öffentlichen Aktion vor dem Brandenburger Tor (siehe jW vom 7. Juli), und er lässt keine Zweifel: »Das Ende ist offen.« Das Jobcenter blieb bisher hart: Er sei rechtmäßig bestraft worden, zuletzt, weil er geforderte Bewerbungen nicht nachgewiesen habe, erklärte es im Juni in einem Widerspruchsbescheid. Das Sozialgericht Berlin setzte Boes‘ Mittellosigkeit ebenfalls kein Ende. Am Dienstag verhandelte es nach drei Jahren seine Klage gegen die erste Leistungskürzung 2012, damals noch 30 Prozent. »Es stellte das Verfahren auf meinen Wunsch hin ruhend, bis das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) grundsätzlich über die Praxis entscheidet«, sagte Boes gegenüber jW. Es dem Sozialgericht Gotha gleichzutun – das Sanktionen des Existenzminimums als verfassungswidrig deklariert hatte –, also selbst eine Richtervorlage in Karlsruhe einzureichen, habe die Richterin abgelehnt.
Boes erläutert, die Kammer habe die beklagte Sanktion zunächst wegen eines Formfehlers des Jobcenters sogar aufheben wollen. »Dann hätte mir das Amt das mit der ersten Kürzung einbehaltene Geld nachzahlen müssen.« Er glaubt zudem, dass es dann auch einige Folgesanktionen hätte umändern müssen. So kam nach der ersten eine zweite Kürzung um 60 Prozent, anschließend sieben 100-Prozent-Sanktionen. »Aus der zweiten Strafe hätte das Jobcenter 30 Prozent, aus der dritten 60 Prozent machen müssen, die übrigen wären geblieben.« Boes habe dies abgelehnt, weil sich so nur in seinem Fall, aber nicht grundsätzlich etwas geändert hätte. Doch bis die Karlsruher Richter über die Rechtmäßigkeit von Sanktionen entschieden, könnten Jahre vergehen. Auch könnten sie die im Mai eingereichte Vorlage der Gothaer Sozialrichter mit einer Begründung abweisen.
Boes öffentliche Hungeraktion vor dem Brandenburger Tor scheint indes von Amts wegen nicht gern gesehen. Seit vergangener Woche sitzt der Aktivist dort jeweils mittwochs bis sonntags abends an einem Tisch. Ein zweiter Platz wird für Gesprächspartner freigehalten. »Man hatte uns die Stühle verboten«, berichtete Boes. Die Polizei – in Berlin untersteht die Versammlungsbehörde dem Landeskriminalamt – habe gemeint, er könne eine Bühne aufstellen, Lautsprecher benutzen, aber eben keine Stühle. Mit einer Eilklage vor dem Verwaltungsgericht habe seine Initiative »Bedingungsloses Grundeinkommen« (BGE) nur den Tisch erwirken können. Dass er ab dem heutigen Mittwoch doch wieder sitzen kann, sei einer Anfrage beim Ordnungsamt Berlin-Mitte zu verdanken. »Sie haben mitgeteilt, wenn das Gericht einen Tisch erlaube, können sie Stühle auch nicht verbieten«, sagte eine Unterstützerin von Boes gegenüber jW.
Mitstreiter sorgen sich um dessen Gesundheit. Wie Diana Aman von der BGE-Initiative mitteilte, stellte sie am Montag Strafanzeige gegen Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), Frank Jürgen Weise, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit (BA), Heinrich Alt, ehemaliger BA-Chef und den Leiter des Jobcenters Berlin Mitte, Thomas Schneider. Sie wirft ihnen am Beispiel Boes vor, für »Misshandlungen an Bürgern« verantwortlich zu sein. Ohne Gerichtsentscheidungen werde Menschen wegen »Vergehen«, die im strafrechtlichen Sinne nicht verfolgt würden, die Existenzgrundlage entzogen. Sie verweist auf einen ähnlich formulierten offenen Brief des Künstlers Timothy »Speed« Levitch an den Berliner Oberstaatsanwalt Jörg Raupach, Ministerin Nahles und Vertreter der Menschenrechtsorganisation »Human Rights Watch« vom 15. Juli. Die Politik sehe ungerührt zu, wie »ein politischer Gegner bis in den Hungertod getrieben« werde.
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