PlusMinus ARD vom 2. August 2011 Das Märchen vom Fachkräftemangel
Das Märchen vom Fachkräftemangel
Bruno H. ist siebenundfünfzig. Früher arbeitete er als Umwelt und Agrarökonom im mittleren und gehobenen Management. Als wir ihn im März diesen Jahres mit unserer Kamera besuchen, ist er seit rund zwölf Jahren mit Unterbrechungen arbeitslos. Hunderte von Bewerbungen hat er verschickt, Umschulungen auf Rat der Arbeitsagentur zum Pharmareferenten und Fachpädagogen absolviert. Aber heraus kamen nur kurzzeitige Jobs. Hinter verschlossenen Türen, so berichtete er, hätten ihm die Vermittler der Arbeitsagentur mal weniger direkt, mal ganz offen gesagt, dass die Arbeitgeber ihn für zu alt halten. „Ich denke, dass sich hinter dem Begriff, ich sei ‚zu alt‘ ein ganz anderer Sachverhalt verbirgt“, glaubt H.“dieser Begriff des „Zu-alt-Seins“ steht für mich synonym für zu teuer, für zu erfahren, für zu wenig blauäugig, für zu wenig skrupellos.“
Hohe Dunkelziffer
Hoch qualifiziert, aber zu alt für eine Neueinstellung – da ist er nicht allein: auch im Aufschwung finden nur wenige über 50 eine Anstellung. Während die allgemeine Arbeitslosenquote sinkt, stagniert der Anteil der Älteren mehr oder weniger. Immer noch sind etwa eine Million von ihnen ohne Job.
Tatsächlich sind es sogar mehr als in den Statistiken stehen. Denn: Arbeitslose ab 58, die länger als ein Jahr keine Angebote erhalten, fallen einfach aus der Statistik heraus. Wenig Anreiz für die Agenturen, diesen überhaupt noch Stellen anzubieten. Bruno H. wird in wenigen Monaten 58.
Hartz IV mit 57
Als wir Bruno H. im August 2011 besuchen, also fast ein halbes Jahr nachdem wir ihn das erste Mal getroffen haben, hat er immer noch keinen Job. Im Gegenteil: Er ist von Arbeitslosengeld I in Hartz IV gerutscht, bekommt als noch weniger finanzielle Unterstützung vom Staat. Er erzählt uns, dass er frustriert ist auch „über das, was ich höre, nämlich, dass angeblich alles so prima läuft gerade für die Älteren und für Fachkräfte, so weit, dass man sogar außerhalb der Bundesrepublik suchen muss.“
Was H. damit meint ist die aktuelle Debatte über neue Zuwanderungsregelungen für Fachkräfte. Der Grund: Während fast eine Million ältere Arbeitslose in Deutschland vergeblich auf Jobs warten, klagt die Wirtschaft über einen angeblichen „Fachkräftemangel“. Die Zuwanderung von Hochqualifizierten aus Drittländern wie China oder Indien müsse gefördert werden, unter anderem durch niedrigere Einkommensschwellen für ausländische Kräfte. Sonst drohe der deutschen Wirtschaft der Kollaps.
Fachkräfteflucht
Gleichzeitig laufen den deutschen Unternehmen viele einheimische Fachleute davon: Eine Studie der Bertelsmannstiftung zeigt, dass pro Jahr mehr Wissenschaftler und Führungskräfte aus Deutschland auswandern als einwandern. Deutschland verliert den Kampf um die Köpfe gegen andere EU-Länder. Der Grund ist ganz einfach: Dort wird besser gezahlt und es herrscht eine andere Willkommenskultur für ausländische Fachkräfte mit Annehmlichkeiten wie Zuschüssen, Kinderbetreuungsangeboten oder Hilfe bei der Stellensuche für die Partner der Zuwanderer.
Zu niedrige Löhne
Karl Brenke vom deutschen Institut für Wirtschaftsforschung analysiert seit langem die Einkommens-Entwicklung in Deutschland. Er kommt zu dem Schluss: Es gibt hier gar keinen Fachkräftemangel, sonst müssten die Löhne höher sein, denn die Löhne seien wie die Preise der beste Knappheitsindikator: „Die Löhne sind in Deutschland in den letzten Jahren nicht stark gestiegen, das gilt auch für Löhne für Hochqualifizierte oder Ingenieure.“ Und wenn man Fachkräfte aus anderen EU-Staaten anlocken wolle, müsse man gute Arbeitsbedingungen bieten. Dazu gehöre vor allem eine entsprechende Entlohnung. „Wenn die deutschen Arbeitgeber dazu nicht bereit sind, dann werden sie eben die Fachkräfte aus anderen Ländern nicht bekommen, obwohl dort die Arbeitsmarktsituation schwierig ist, wie beispielsweise in Spanien oder Irland.“
Lohndrückerei
Doch wenn es nach den Arbeitgeberverbänden geht, sollen außereuropäische Zuwanderer nicht mehr, sondern weniger verdienen. Aus Sicht von IG BAU Chef Klaus Wiesehügel eine gefährliche Strategie: „Die Auswirkung wird noch mal ein gewaltiger Lohndruck sein. Wir werden erleben, dass Menschen in dieses Land wandern, über niedrige Löhne um den Arbeitsplatz konkurrieren, und diejenigen, die den Arbeitsplatz jetzt haben, werden dabei stehen und sehen, dass ihr Arbeitsplatz verloren gegangen ist.“
Brenke vom deutschen Institut für Wirtschaftsforschung sieht das ganz ähnlich ein: Je höher das Angebot, desto geringer sind die Preise und das gelte auch für den Arbeitsmarkt: je höher das Angebot an Arbeitnehmern, desto geringer seien die Löhne, wenn Zuwanderung stattfindet, drückt das auf die Löhne.“
Personaler mit Vorurteilen
Ältere Langzeitarbeitslose landen irgendwann zwangsläufig in den Job-Centern. Die Vermittler dort wissen, wie schwierig es ist, über 55-Jährige wieder in Arbeit zu bringen und kennen die Vorurteile von Arbeitgebern, die aber unberechtigt sind, meint Stefan Franz von der Arge: „Es gilt für die Personal-Entscheider erst einmal eine Hürde zu überwinden und nicht davon auszugehen: alt = krank.“
Auch der Arbeitsmarkt-Experte Heiko Breit vom Saarbrücker ISO-Institut findet, dass die Agenturen und Jobcenter bereits gute Maßnahmen für Ältere entwickelt haben: „sie werden trainiert, weitergebildet, gecoacht, motiviert – aber das ist immer losgekoppelt von den Betrieben selbst.“ Es müssten betrieblicher Bedarf und individuelles Potential abgestimmt werden: „Das heißt, die Unternehmen müssen mit ins Boot geholt werden.“
Fachkräftepotential: Eine halbe Million
Vermittler Franz rechnet vor: Nur etwa die Hälfte der über 55-jährigen Deutschen haben derzeit Jobs. Würde man diese Quote um nur zehn Prozent steigern, hätte die Wirtschaft auf einen Schlag eine halbe Million Fachkräfte mehr. Denn sie stehen dem Arbeitsmarkt sofort zur Verfügung; diese Maßnahme würde also wesentlich schneller helfen im Kampf gegen den Fachkräftemangel als Programme gegen Studienabbrüche oder Arbeits-Anreize für Erziehende.
Die Älteren seien „entgegen aller Vorurteile, die es in den Betrieben gibt, flexibel, denn das sind Menschen, die arbeiten möchten. Die Fähigkeiten jenseits der fachlichen Qualifikation wie Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Teamfähigkeit sind bei ihnen meist besser ausgeprägt als bei jungen Berufseinsteigern“, meint Jobvermittler Franz und appelliert an die Unternehmen, endlich umzudenken und ältere Arbeitskräfte einzustellen: „Sie werden nicht enttäuscht werden!“
Im Internet PlusMinus:
http://www.daserste.de/plusminus/beitrag_dyn~uid,quu9gf0a1y1qhjjg~cm.asp
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