Hartz-IV-Gegner Ralph Boes nach 61 Tagen hungern am Ende seiner Kräfte. Arbeitsministerium beruft sich auf Essensmarken und »bedauert« ihn.
Dem seit 61 Tagen öffentlich hungernden Hartz-IV-Bezieher Ralph Boes geht es gesundheitlich zunehmend schlechter. Spätestens am Montag wolle er einen Arzt aufsuchen. Im Notfall werde er in die Klinik gehen, sagte Boes am Sonntag gegenüber junge Welt. Am Freitag sei es ihm erstmals so schlecht gegangen, dass er seine abendliche Aktion vor dem Brandenburger Tor fast abgeblasen hätte. Zugleich beteuerte der Aktivist: »Es ist nicht mein Wille, zu sterben.« Er habe nur beschlossen, auf seinem verfassungsmäßig garantierten Grundrecht auf ein Leben in Würde zu bestehen. Hartz IV zwinge Menschen permanent dazu, sich zwischen Würde und Leben zu entscheiden, fügte er an. »Da mache ich nicht mit«.
Boes stellte klar, es handele sich nicht um einen »Hungerstreik«. Vielmehr esse er nichts, weil ihn das Jobcenter Berlin-Mitte mittels Sanktionen dazu zwinge. Seit Mitte 2013 kürzt ihm das Amt nach und nach sämtliche Leistungen: Regelsatz, Miete, Sozialversicherung. Überlebt habe er bis Ende Juni mit Darlehen von Freunden. Seit 1. Juli nimmt er die freiwilligen Zuwendungen nicht mehr an. Andere Sanktionierte – allein im März 2015 lebten laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) rund 6.500 Hartz-IV-Berechtigte mit einer dreimonatigen Vollsanktion – hätten auch kein solches Angebot, so der Aktivist. Ein Ende der Strafen ist indes nicht abzusehen: Am Donnerstag erhielt der 58jährige die zehnte 100-Prozent-Kürzung in Folge.
»Ich war wieder böse«, meinte Ralph Boes auf Nachfrage zunächst ironisch. Dann erläuterte er: »Das Übliche: Ich habe die geforderten zehn Bewerbungen nicht geschrieben.« Das Jobcenter Berlin Mitte tituliert diesen »Tatbestand« als »fehlende Eigenbemühungen zur Aufnahme einer Arbeit«. Gefährdet sei der Mann wegen der Leistungseinstellung nicht, findet das Amt. Schließlich habe es ihm am 31. Juli Lebensmittelgutscheine angeboten. Die habe Boes beantragt und erhalten. Mit der Ausfertigung der »Essensmarken« zahle das Amt auch wieder die Beiträge zur Sozialversicherung. Boes hält die Scheine für »entwürdigend« und will sie ebensowenig nutzen, wie er den amtlichen Anweisungen künftig folgen will. »Ich habe mich entschieden, ehrenamtlich zu arbeiten«, so Boes. Davon weiß das Jobcenter – und sanktioniert ihn weiter. Auf Anfrage teilte Behördensprecher Andreas Ebeling am Freitag mit, die Geschäftsführung könne »so kurzfristig« nichts dazu sagen. »Sobald mir eine Stellungnahme vorliegt, werde ich mich wieder bei Ihnen melden«, versprach Ebeling.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) unter Andrea Nahles (SPD) wollte sich nicht erneut zum Fall Boes äußern. Dies sei Aufgabe des Berliner Jobcenters, teilte die stellvertretende Sprecherin des Referats »Presse, strategische Kommunikation«, Christina Jäger, am Freitag mit. Sie gab eine Stellungnahme ihrer Vorgesetzten, Lena Daldrup, von Mitte August zum Besten. Boes habe Nahrungsgutscheine zur Sicherung seiner Existenz erhalten, schreibt diese darin. Damit habe das Jobcenter dem geltenden Recht genüge getan. Es sei nicht Schuld der Behörden, dass »Herr Boes die Rechtslage bekanntlich nicht akzeptiert«. Die Hungeraktion beruhe folglich auf freier Willensentscheidung. »Ich bedauere außerordentlich, dass Herr Boes für dieses politische Ziel bereit ist, seine Gesundheit aufs Spiel zu setzen«, so Daldrup. Mit anderen Worten: Wenn ein Erwerbsloser sich weigert, eine verordnete Anzahl von Bewerbungen auf eigene Kosten zu schreiben, darf ihm das vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 2010 und 2014 als »dem Grunde nach unverfügbar« deklarierte »physische und soziokulturelle Existenzminimum« nach Ermessen des Jobcenters versagt werden. So urteilte im Fall Boes auch das Berliner Sozialgericht Anfang August (S 168 AS 5858/14). Der 58jährige habe wiederholt gegen »zumutbare Mitwirkungspflichten« verstoßen. Die Sanktionsregelungen im Zweiten Sozialgesetzbuch seien ferner »nicht evident verfassungswidrig, da dem Gesetzgeber freigestellt ist, wie er das Existenzminimum absichert«.
jungeWelt vom 31.08.2015
http://www.jungewelt.de/2015/08-31/026.php
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